Preis der Leipziger buchmesse: Natascha Wodin gewinnt in der kategorie Belletristik

In „Sie kam aus Mariupol“ forscht Natascha Wodin nach den Lebensspuren ihrer ukrainischen Mutter Jewgenia — und stößt auf das Schicksal ihrer Tante Lidia. Während die Mutter 1943 mit ihrem russischen Mann als Zwangsarbeiterin in ein Leipziger Montagewerk für Kriegsflugzeuge verschleppt wurde, kam die Tante zehn Jahre zuvor in ein sowjetisches Straflager. Das ist die ungeheuerliche Parallelität, die die Familiengeschichte zerteilt. „Sie kam aus Mariupol“ ist nicht aus einem Guss, weil es angesichts der Brüche des 20. Jahrhunderts gar nicht aus einem Guss sein kann.

In vier hart gefügten Teilen treibt es aus unterschiedlichen Richtungen seine Stollen durch ein Massiv kollektiver und individueller Gewalt. Dieses Buch trägt auch ausdrücklich nicht die Bezeichnung Roman. Doch an der Grenze von Fiktion und Nichtfiktion, wo es angesiedelt ist, betreibt es autobiografisches Schreiben mit einem hohen Maß an Selbstreflexion und romanhaftes Schreiben auf der Grundlage von Lidias Tagebüchern. In diesem genreüberschreitenden Sinn ist es unerhört zeitgenössisch. Erinnerungsarbeit als Widerstand gegen das eigene Zerbrechen: Die Rettung, die sich Natascha Wodin davon erhofft, bleibt aus. Aber die Tapferkeit, mit der sie den Dämonen ins Gesicht sieht, die sie bannen muss, hat auch etwas ungemein Ermutigendes. Davon kann sich jeder Leser von „Sie kam aus Mariupol“ überzeugen.

Die Autorin
Natascha Wodin, 1945 in Fürth geboren, ist seit 1981 freie Schriftstellerin und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt für das Manuskript von „Sie kam aus Mariupol“ mit dem Alfred-Döblin-Preis 2015. In ihren Werken setzt sich Natascha Wodin vor allem mit dem Thema der Entwurzelung, Fremdheit und Ortlosigkeit auseinander. Zuletzt erschienen sind „Nachtgeschwister“ (Kunstmann, 2009) und „Alter, fremdes Land“ (Jung und Jung, 2014).

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