Was theater dem auseinanderdriften der gesellschaft entgegensetzen kann

Die staatlichen Theater in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen wollen gesellschaftspolitische Veränderungen aktiv begleiten und sich einmischen: In einer Umfrage von MDR KULTUR sprachen sich 31 von 32 Intendantinnen und Intendanten für einen Aktualitätsbezug beispielsweise gegenüber Rechtspopulismus oder digitalen Medien aus. Für fünf Theaterchefs (16 Prozent) steht dies sogar an erster Stelle ihrer täglichen Arbeit: im Theater Junge Generation Dresden, im Anhaltischen Theater Dessau, im Meininger Staatstheater, im Theater Eisleben und im Mittelsächsischen Theater Freiberg-Döbeln.

Ralf-Peter SchulzeBildrechte: Jörg Metzner

Der Intendant des Theaters Freiberg-Döbeln, Ralf-Peter Schulze, sagte MDR KULTUR, man werde immer wieder für Freiheitsrechte und schützenswerte Formen des Zusammenlebens eintreten: «Eine Re-Nationalisierung sowie eine mythische Überzeichnung von 'Volk' und 'Nation' wird es am Theater nicht geben». Ansgar Haag, Intendant des Meininger Staatstheaters, vertritt die Ansicht, als staatlich finanzierter Theaterbetrieb sei es die erste Pflicht, die Interessen des Staates, «sprich unseres Grundgesetzes und unserer Demokratie, ins Zentrum unserer Spielpläne zu setzen. Themen wie 'Europa ohne Grenzen', 'Nie wieder Krieg', Chancen der Immigration und Klimaschutz sind sicher eine Kernaufgabe unserer Theater.»

Eintreten gegen Hass

Andere Intendantinnen und Intendanten sprechen ähnliche Themenfelder an. Steffen Mensching, Intendant am Theater Rudolstadt, bemerkt, dass man die «zunehmende Aggressivität der Meinungsbildung, die Unerbittlichkeit, mit der an einmal gefundenen Positionen festgehalten wird und die Blindwut, mit der andere Auffassungen von Staat und Gesellschaft attackiert werden», im Blick behalten müsse.

Schon deshalb, weil es Haltungen sind, mit denen man kein Theater machen kann. Sie stehen für das Gegenteil von Spiel, sind Kampf um jeden Preis.

Steffen Mensching, Intendant des Theaters Rudolstadt
Theater als Ort der Identitätsbildung?

Welche Wege sollte das Theater also gehen, um auf die sich aufspaltende Gesellschaft zu reagieren? Geht es darum, zunehmend als Ort der Identitätsbildung aufzutreten? 53 Prozent der Befragten bejahen dies. Darunter auch Guy Montavon, Generalintendant des Theaters Erfurt. Er sagt: «Identitätsbildung hat sich durch die Globalisierung stark verändert und muss heute zunehmend vor dem Hintergrund rasanter Veränderungen neu ausbalanciert werden.» Eine wichtige Rolle zur Hilfe von Identitätsbildung kommt seiner Ansicht nach auch der theaterpädagogischen Arbeit zu. Diese Abteilung sei in den vergangenen Jahren an seinem Haus stark ausgebaut worden.

«Befähigung zur empathischen Persönlichkeit»

Der Begriff «Identitätsbildung» wird von 66 Prozent der Intendantinnen und Intendanten im Sinne allgemeiner Persönlichkeits- und Gesellschaftsentwicklung verstanden: Teilhabe, Partizipation, kulturelle Bildung, Empathiefähigkeit, Austausch und Kommunikation sind hier Stichworte. Oder, wie Christoph Dittrich, Generalintendant der Städtischen Theater Chemnitz, es zusammenfasst: «Die Befähigung zur empathischen Persönlichkeit ist Ziel der Kultur.»

34 Prozent der befragten Theaterchefs beziehen den Begriff «Identitätsbildung» dagegen explizit auf den Diskurs, den die AfD in Gang gesetzt hat (u. a. durch kleine Anfragen im Parlament, etc.). Der Intendant des Neuen Theaters Halle, Matthias Brenner, meint: «Zur Zeit wird von uns verlangt, dass wir uns positionieren. Auf der einen Seite steht Europa als eine offene, kreative Gesellschaft. Das ist die Position der Grünen. Auf der anderen Seite steht der Erhalt nationaler Identität. Das ist die AfD. Dazwischen gibt es scheinbar nichts.»

Deswegen ist es unsere Aufgabe, Meinungsbildung herauszufiltern; Lebensentwürfe zu zeigen; Zwischentöne anzusprechen.

Matthias Brenner, Intendant des Neuen Theaters Halle
Die Gegenposition: Gesellschaft soll sich auffächern

Es gibt jedoch auch Gegenstimmen: 47 Prozent der Intendantinnen und Intendanten setzen derzeit nicht verstärkt auf Identitätsbildung, viele von ihnen mit der Begründung, dass diese Art von Arbeit schon immer wichtig gewesen sei. Nur zwei der 32 Befragten lehnen Identitätsbildung als Aufgabe des Theaters grundsätzlich ab. Für Florian Lutz, Intendant der Oper Halle, spielt sie «gar keine!» Rolle. Zur Begründung sagte er: «Denn erstens ist 'Identitätsbildung' immer verkehrt und sollte vermieden werden. Und zweitens freuen wir uns an der Oper Halle, wenn sich unsere Gesellschaft immer stärker auffächert und halten dies für eine Bereicherung».

Der Wandel und seine Grenzen

Viele Theater experimentieren mit neuen Darstellungsformen, um auf gesellschaftspolitische Veränderungen zu reagieren. Eine Mehrheit der Intendantinnen und Intendanten (56 Prozent) merkt allerdings an, dass dieser Ansatz nicht neu sei. Theater sei grundsätzlich «eine lebendige Kunst» (Kay Kuntze, Intendant des Theaters Altenburg-Gera), «experimentierfreudig» (Johannes Rieger, Intendant des Nordharzer Städtebundtheater) und «grenzenlos» (Sibylle Tröster, Intendantin des Theaters Waidspeicher Erfurt). Als Beispiele für aktuelle neue Formate wurden unter anderem genannt: Lese- und Diskussionsformate, inklusive Formate, multilinguales Theater und spartenübergreifende Projekte.

Fünf Befragte zeigen in der Umfrage auf, wo die Entwicklung neuer Aufführungsformen aber auch an Grenzen stößt. Drei von ihnen leiten Opernhäuser, wo der «Apparat» naturgemäß groß ist, darunter das Nordharzer Städtebundtheater, das zu sehr Aufgaben als Landesbühne (Reisetätigkeit) erfüllen muss, und das Anhaltische Theater, ein (zu) großes Haus, in der (zu) kleinen Stadt Dessau. Dessaus Generalintendant Johannes Weigand sagt: «Wir sind die kleinste Stadt im Land mit dem größten Theater und haben in diesem großen Theater auch immer 1.067 Plätze zu füllen. Was man dann an diesem Ort nicht unbedingt mit Experimenten tun kann.»

Wie weiter mit Oper und Operette?

Für knapp die Hälfte der Befragten (47 Prozent) ist bei der Suche nach neuen Formen das Musiktheater in besonderer Weise gefordert. Gleichzeitig wird in den Antworten deutlich, wo hier die Herausforderungen liegen: Karen Stone, die Generalintendantin des Theaters Magdeburg, erklärt, dass sich gerade bei Uraufführungen weiterhin das Problem stelle, «dass sich die Neugier auf Neues beim Publikum in Grenzen hält». Roland May, Intendant des Theaters Plauen-Zwickau, verweist auf das höhere Durchschnittsalter beim Musiktheaterpublikum: «Die älteren Zuschauer*innen haben eine sehr traditionelle Aufführungserwartung».

16 der 32 befragten Intendantinnen und Intendanten halten sich in dieser Frage mit klaren Meinungen zurück, zum Teil, weil sie selbst kein eigenes Musiktheater produzieren. Der Intendant der Oper Leipzig, Ulf Schirmer, spricht sich als einziger konkret gegen eine besondere Rolle des Musiktheaters aus. Er ist der Meinung, dass das Musiktheater jetzt nicht außerordentlich anders gefordert sei als zu jeder anderen Zeit.

Zum Projekt IntendantenbefragungMDR KULTUR hat in einer repräsentativen Erhebung die Intendantinnen und Intendanten aller 32 Stadt- und Landes- und Staatstheater in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen befragt. In 16 Fragen wollten wir unter anderem wissen, ob die Theaterleitungen angesichts der aktuellen politischen Debatten die Freiheit der Kunst in Gefahr sehen, ob es an der Zeit für neue Finanzierungsmodelle ist, und ob die Idee, Theaterbesuche in Zukunft kostenlos zu machen, Unterstützung findet. Die Ergebnisse der Befragung geben wir in diesem sowie in weiteren Artikeln (siehe unten) wieder. Die Befragung wurde durchgeführt von Opernredakteurin Bettina Volksdorf und Theaterredakteur Stefan Petraschewsky.

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